Zunächst herrscht Dunkelheit. Die Leinwand ist schwarz. Der Blick versinkt in der Finsternis, in einem Tunnel der Finsternis. Leise, gedämpfte Geräusche sind zu vernehmen. Doch woher? Das verrät die Schwärze nicht. Jäh erscheint eine Szene: leichte, sanfte Schneeflocken und etwas Wassergeplätscher in einem monotonen, rotbraunen Hinterhof. In diesem stillen Bild breitet sich schleichend ein unwohles Gefühl aus, es schwebt eiskalte Gewalt in der Luft. Mitten im Hof liegt der zerschundene Körper einer Frau. Mit einem Schlag wird dieses krasse Bild durch dröhnende Musik von der deutschen Band Rammstein zerrissen und was da gerade gesehen, ja erlebt wurde, war eine der ergreifendsten Ouvertüren der Filmgeschichte. Du bist mir ans Herz gewachsen, wenn ich blute, hast du Schmerzen; wir müssen uns kennen, mein Körper hat zwei Namen, nichts kann uns trennen, grölt eine tiefe Stimme. Abrupt stoppt die Musik; die Stille kehrt zurück.
Das Paradox sitzt tief
Ein älterer Mann entdeckt schließlich die Frau, er will den Krankenwagen rufen, sie lehnt ab. Er beschließt darfauhin, sie mitzunehmen und zu pflegen. Die Frau, namens Joe, entpuppt sich als selbstdiagnostizierte, hyperdepressive Nymphomanin, die ihr bisheriges Leben fabel- bzw. parabelartig ihrem Retter, einem kultivierten Mann mit dem Namen Seligman, vorträgt. Was folgt, ist eine zweistündige Tour-de-Force – schockierend, berührend, erschütternd – und, man mag es kaum glauben, auch erheiternd und weise; als würden sich Sigmund Freuds Es und Über-Ich oder Friedrich Nietzsches Dionysische und Apollinische ein Streitgespräch liefern. Es ist gerade diese Mischung aus Erschreckendem und Klugheit, die Von Triers Nymphomaniac zu einem unauslöschlichen Erlebnis macht. Am Ende sitzt das Paradox so tief, dass der Zuschauer sich zitternd aus dem Raum bewegt, verwirrt um sich blickt und vergeblich versucht, an etwas Positives zu denken. Dann, auf einmal, platzt die selbstauferlegte Restriktion des Nicht-Weinens und der Körper spült durch eine Tränen-Lach-Mischung alles Aufgestaute hinaus – was zurückbleibt, ist ein bebendes Wrack, das sich langsam wieder aufbaut und zu neuer Stärke findet. So muss sich Aristoteles’ Katharsis anfühlen.
Philosophische Gedankenspiele
Von Trier erklärt anhand seiner Geschichte so manche Ansichten über Kunst und Religion, zieht Parallelen zwischen dem Fangen von Fischen und der Suche nach Geschlechtsverkehr, stellt das menschliche Wollen, den menschlichen Trieb als niederen Beweggrund bloß; ja, er zeigt die Versklavung des Menschen durch sein eigenes Genital.
In einer Szene beobachtet der Zuschauer einen namenlosen Mann mit Joe beim Sex, daneben ist die Aufnahme eines Tigers zu sehen, der eine Antilope im Maul trägt. Die Ähnlichkeit und gleichzeitige Diskrepanz zwischen beiden Bildern könnte nicht größer sein: Einerseits ist der gezeigte Sex wie ein Tiger, der eine Antilope frisst, andererseits aber wirkt der Tiger in der Aufnahme dabei so viel eleganter und edler als der namenlose Mann. Das ist der fundamentale Unterschied zwischen Tier und Mensch. Beschämt muss der Mensch den Kopf senken. Der Tiger aber bleibt währenddessen mit erhobenem Haupt stolz auf der Leinwand. Das erinnert teilweise an die Feder von Arthur Schopenhauer: Denke dir das schönste, liebreizendeste Paar, wie sie voll Grazie im schönen Liebesspiel, sich anziehen und zurückstoßen, begehren und fliehen, ein süßes Spiel, ein lieblicher Scherz – Nun sieh sie im Augenblick des Genusses der Wollust – aller Scherz, all jene sanfte Grazie ist plötzlich fort, urplötzlich beim Anfang des >actus< verschwunden, und hat einem tiefen Ernst Platz gemacht. Was für ein Ernst das ist? – Der Ernst der Tierheit. Die Tiere lachen nicht. Die Naturkraft wirkt überall ernst… Dieser Ernst ist der entgegengesetzte Pol des hohen Ernstes der Begeisterung, der Entrückung in eine höhere Welt: da ist auch kein Scherz: in der Tierheit auch nicht.
Das bedeutet: Der Koitus reißt den Menschen als souveränes Subjekt hinunter in die ich-lose Natur und macht ihn zum Objekt ihres Triebes; der Mensch spielt nicht mehr, ihm wird mitgespielt. Die Folge ist Demut und Passivität des Getrieben-werdens. Mit Schopenhauers Worten gesprochen, ist das so etwas wie ein Attentat auf die Souveränität; der Mensch ist (hilflos) an sein Geschlecht gekettet. Das Tier hingegen hat nichts zu befürchten, es kann sich dem Trieb hingeben. Es kann nicht lachen und kennt damit auch nicht die Lächerlichkeit. Der Mensch aber wird dabei lächerlich, denn er kennt das Lachen.
Es sind solche Momente, die den Film unsterblich machen und philosophische Gedankenspiele anstoßen. Von Trier bleibt nicht zynisch-kalt, sondern lässt auch einige Momente des Trostes zu – der gekränkte Mensch soll nicht gänzlich im Schock des dionysischen Nackten und Geilen erstarren. Von Anfang bis Ende steckt in dem Film eine (naive) Poesie, die ein flirrend schönes Licht auf das Gezeigte legt, aber stets mehr und mehr mit Gift durchtränkt wird. Ach, am Ende ertönt erneut die dröhnende Musik von Rammstein – danach ist alles zu Ende und der Zuschauer kann sich zitternd aus dem Kinosaal schleifen und dann, endlich, weinen.