Demut statt Begierde

Alles Wollen entspringt aus Bedürfnis, also aus Mangel, also aus Leiden“. Schopenhauers philosophischer Scharfsinn kommt zu einer simplen, aber wirkungsvollen Gleichung: Wollen = Leid. Der absolute Drang des Willens nach mehr, weniger philosophisch ausgedrückt das Begehren nach allem und jenem, kann langfristig nur zu Entrüstung und Enttäuschung führen. Es verstärkt letztendlich das Leid und lässt uns lächerlich und bloßgestellt zurück. Werden diese Gedanken weitergesponnen, befindet man sich mit Schopenhauer alsbald in einer Zwickmühle: „Das Leben ist ein Pendel, welches ohne Unterlaß zwischen Schmerz und Langeweile schwingt.“ Schmerz und Leid spüre ich, wenn mir das, was ich begehre, verwehrt bleibt. Langeweile überkommt mich, wenn ich das Begehrte schließlich erreicht habe. Nach einem kurzen (oder gar keinem) Moment der persönlichen Erfüllung, herrscht aber erneut Trostlosigkeit und Verbitterung. Schopenhauers Philosophie wird hier zu einem zynischen Teufelskreis – wir, die Menschen, sind wie Ratten, die endlos oder ständig oder ohne Unterlass in Laufrädern des Leidens kreisen.

Schopenhauers Mittel

Nun wäre der Mensch aber nicht Mensch, wenn er sich wie eine hilflose Marionette von seinem Leid, alias seinem Begehren, steuern ließe und nicht versuchen würde, diesem Schicksal zu entkommen. Schopenhauer zeigt deshalb weiterhin auf, was es für Mittel gegen diesen Sisyphos des Leidens gibt: Kunst, Moral und Askese. Kunst ermöglicht das erhabene Austreten aus dem Laufrad und gönnt uns einen Moment der Ruhe, Moral lässt den Menschen erkennen, dass er mit seinem Leid nicht alleine ist und vertröstet ihn, und Askese – die höchste Form der Leidensbekämpfung, aber auch die schwierigste –  besteht aus einer totalen Lebensentsagung, aus einem persönlichen Nirvana. Ironischerweise hat Schopenhauer selbst so ein Nirvana nie erreicht – sein Begehren und damit sein Frust haben sein Leben weiterhin gesteuert, sei es auf beruflicher oder sexueller Ebene. Dem grantigen Impulsmenschen fehlte wohl der letzte Schliff an Erhabenheit und Demut.

Sokurows Stille der Natur

Diese beiden Zustände sind nun aber gar nicht so schwer zu erreichen, wenn wir bereit sind, an uns zu arbeiten. Wäre es nicht schöner, wenn der Mensch nicht mehr der Sklave seiner primitiven, unersättlichen und oft gedankenlosen Bedürfnisse wäre? Wenn rücksichtsloses Begehren nach immer mehr und mehr – man denke hier an Goethes nimmersatten Faust – nicht nur persönlich zu Schäden führt, sondern auch die Umgebung und Umwelt des Menschen schädigt, ist ein kritischer Punkt erreicht. Dieses unaufhaltsame Wollen hat die letzten Jahrhunderte beängstigende Ausmaße angenommen und zu einer Abkehr des Menschen von der Natur geführt. Bis jetzt scheiterte der Mensch daran, die Natur zu beherrschen und sie sich anzueignen, aber deren Zerstörung ist er dabei immer nähergekommen. Mit dem russischen Regisseur Alexander Sokurow gesprochen, sind die erhabenen und tatsächlich würdevollen Menschen die, welche die Stille der Natur (einfach) annehmen und akzeptieren. Zu allererst muss sich der Mensch dafür aber selbst in Bescheidenheit und Demut üben. Dazu genügt es, einmal Sokurows eindrucksvolle Macht-Tetralogie (Moloch (1999), Telets (2001), Die Sonne (2005) und Faust (2011)) anzusehen.

Der Weg zur Demut

Wie gelangt der Mensch aber nun zu Bescheidenheit und Demut? Dazu muss er Schopenhauer und Sokurow kombinieren. Leid einerseits, Annahme und Akzeptanz andererseits. Das Leid ist des Lebens Kern, es ist von Anfang an in unserer DNA festgeschrieben, denn es herrscht zunächst nach der Geburt a priori immer ein Mangel, den der Mensch stillen muss. Wäre er alleine, würde er schon gar nicht überleben. Er benötigt Essen, Wärme, Zuneigung – deshalb schreit er. Nach und nach begreift der Mensch, was er braucht und akzeptiert es: Nahrung, Mitmenschen, persönliche Entfaltung. Der Kluge unter uns wird versuchen, diese Bedürfnisse zu stillen; doch er wird nicht darüber hinausgehen. Er begehrt also Dinge nur zu einem bestimmten Grad. Dabei gibt es – und das hat Schopenhauer übersehen – auch ein positives Wollen, dass zu persönlicher Entfaltung führt. Doch dieses hat im Gegensatz zu anderem Wollen Grenzen. Persönliche Einsicht, Verständnis des Ursprungs des Leids sowie ehrfürchtiger Umgang mit seinen Mitmenschen und seiner Umgebung sind das Resultat. Wer hingegen immer mehr will, ja eine unendliche Begierde pflegt, um sich von sich und seinem Leid zu entfernen, der landet in einer Sackgasse und belügt sich selbst. 

Das Üben in Bescheidenheit und Nachsicht bedarf jedoch harter Arbeit. Nach einer Odyssee des Leides und Unheils kommt Voltaire in seinem philosophischen Abenteuer Candide zu dem Entschluss: „unser Garten muss bestellt werden“. Diesem Credo heißt es zu folgen: Der Mensch sollte zuerst sein Inneres und seine Gedanken bearbeiten – nicht auf die großen Dinge und Verheißungen blicken. Voltaires Satz ist ein einzigartiges Lehrstück in Sachen Modestie und Bescheidenheit, die dem Menschen einen würdevollen Platz in einer empfindlichen Welt geben.    

Oft wird vermutet, Demut sei eine Schwäche, aber im Gegenteil: Sie ist ein Verhalten der Stärke. Ehrgeiz und Rivalität, Begierde und Wettbewerb – diese liberal-kapitalistischen Werte – führen hingegen ins Desaster, in ein menschliches und weltliches Desaster. Das Begehren wird von diesem Wertesystem angestachelt, doch das Mittel der Befriedigung – Konsum – ist umso grauenvoller, da es diese Begierde an sich nicht stoppen kann! (Moderner) Konsum ist nur ein partieller Lückenstopfer.  

Die einst hohe christliche Tugend der Demut (etwa bei Luther) ist heute wichtiger denn je. Wir Menschen sollten mit überlegter Bescheidenheit, nicht blindem Begehren leben.