
Kiernan Shipka in Die Tochter des Teufels (© Koch Media GmbH)
Wer erinnert sich noch an die außergewöhnliche Marketing-Kampagne zu Longlegs? Die kryptischen Trailer, die kaum Informationen preisgaben, geheimnisvolle Plakate, die lediglich ein Datum nannten, eine mysteriöse Nummer, bei der Leute anrufen konnten, all das erzeugte eine immense Neugierde – die Kampagne war eines der Marketing-Highlights 2024. Dieses clevere Vorgehen ließ die Spannung schon ins Unermessliche steigen, noch bevor der Film überhaupt in die Kinos kam. Und die Kampagne zahlte sich aus: Mit einem weltweiten Einspielergebnis von 127 Millionen US-Dollar bei einem Budget von weniger als 10 Millionen avancierte Longlegs zum umsatzstärksten Independent-Film des Jahres. Für Osgood „Oz“ Perkins markierte der Film den bisherigen Höhepunkt seiner Karriere. Er brachte ihm nicht nur breite Anerkennung, sondern bewies einmal mehr seine ganz spezifische künstlerische Handschrift.
Vor Longlegs schuf Perkins drei faszinierende Filme, die alle ihre eigene, poetische und verstörende Sprache sprechen: Die Tochter des Teufels (2015), I Am the Pretty Thing That Lives in the House (2016) und Gretel & Hänsel (2020). Diese Werke etablierten ihn als eine der zentralen Stimmen des modernen Art-Horrors – einer Strömung, die das Genre nicht nur zur Unterhaltung nutzt, sondern als Vehikel für tiefgründige, emotionale und künstlerisch anspruchsvolle Geschichten. Wie seine Regie-Kollegen Ari Aster (Hereditary) und Robert Eggers (The Witch) ist Perkins ein Filmemacher, der den Horror als Kunstform versteht und ihn mit einer unverwechselbaren Vision bereichert.
Prädestiniert fürs Horrorgenre?
War Osgood Perkins (*1974) dazu bestimmt, das Horrorgenre zu prägen? Als Sohn (er hat noch einen jüngeren Bruder namens Elvis) von Anthony Perkins, der mit seiner Rolle als Norman Bates in Alfred Hitchcocks Psycho (1960) Filmgeschichte schrieb, und der Schauspielerin sowie Fotografin Berry Berenson, scheint diese Vermutung naheliegend. Eine, die sich noch verstärkt, wenn man weiß, dass Perkins nach seinem Großvater Osgood (1892-1937) benannt wurde, der ebenfalls Schauspieler und unter anderem in Scarface (1932) zu sehen war.
Doch Perkins’ Karriereweg war nicht sehr geradlinig. Erst im Alter von 41 Jahren begann er, das Kino so richtig aus einer neuen Perspektive zu prägen – als Regisseur. Selbst sieht er es als sein Schicksal, wie er einem Journalisten erklärt: „Es war das Geschäft meines Vaters. So wie manche Kinder Banker oder Zahnärzte werden, weil ihre Eltern diesen Beruf ausüben, war das Filmemachen eine Möglichkeit, eine Verbindung zu meinem Vater herzustellen – jemandem, mit dem ich mich nicht immer verstanden habe.“ Auf diese persönliche, autobiographische Dimension kommen wir weiter unten noch zu sprechen.

Porträt von Osgood Perkins (Public Domain)
Sein Einstieg in die Filmwelt begann zunächst vor der Kamera: Bereits in seiner Jugend war Perkins kurz als die junge Norman-Bates-Version seines Vaters in Psycho II (1983) zu sehen. Aber erst zehn Jahre später wirkte er in weiteren Filmen mit, darunter als Polizist in dem Horrorfilm Wolf – Das Tier im Manne (1994) von Mike Nichols. Der bekannte Filmemacher, ein Freund von Anthony Perkins, kümmerte sich um den 18-jährigen Perkins, nachdem sein Vater 1992 gestorben war. Osgood erzählt: „Er war an der Seite meines Vaters, als dieser krank war. Und als ich mit 38 oder 39 Jahren begann, meinen Kopf aus dem Sand zu ziehen und mich dem Schreiben und Filmemachen widmen wollte, war es Mike, der die schärfsten Ratschläge und die aufschlussreichsten Überlegungen hatte.“
In der Tat war Perkins nach dem Tod seines Vaters etwas orientierungslos, und erst Anfang der 2000er war er wieder in Filmen wie Natürlich blond (2001), Secretary (2002) oder Dead & Breakfast (2004) zu sehen. In den 2010er-Jahren wandte er sich dann dem Schreiben von Drehbüchern zu: „Ich hatte mich besonders auf das Drehbuchschreiben konzentriert, das die wichtigste Komponente für jeden erfolgreichen Film ist.“ Hier sammelte er erste Erfahrungen als Co-Autor für Horrorfilme bzw. Thriller wie Removal (2010), Cold Comes the Night (2013) oder The Girl in the Photographs (2015). Bei allen drei Filmen arbeitete er mit Regisseur und Autor Nick Simon zusammen. Erst 2015 wagte er schließlich (alleine) den Schritt hinter die Kamera, um mit Die Tochter des Teufels sein Debüt als Regisseur zu geben. Ab und an ist er aber auch noch als Darsteller zu sehen, zum Beispiel in Nope (2022) seines Horror-Kollegen Jordan Peele oder in seinem eigenen Film The Monkey (2025).
Grausige Bilder, gehüllt in Poesie
Osgood Perkins ist neben Ari Aster und Robert Eggers einer der wohl bedeutendsten Vertreter des Art-Horror-Genres, in dem der Schrecken nicht Selbstzweck, sondern Werkzeug ist – ein Rahmen, in dem persönliche, oft tief introspektive Geschichten erzählt werden. Für Perkins ist der Horror nur ein Mittel, um die Essenz seiner Filme zu transportieren. Die Tochter des Teufels ist ein Paradebeispiel dafür. Dort erzählt Perkins im Mantel einer „klassischen“ Horrorgeschichte, die sich um Dämonen und Besessenheit dreht, die tiefe Trauer eines Mädchens über den Verlust ihrer Eltern.
„Kann ich den Zuschauer in eine Besessenheitsgeschichte eintauchen lassen, während ich in Wahrheit ein trauriges, schmerzliches Porträt dieses Mädchens erschaffe?“, stellt er rhetorisch die Frage. „Ich wollte dämonische Besessenheit als eine Art Abstraktion nutzen, mit der ich Verlust und Einsamkeit thematisiere. Denn Besessenheit bedeutet letztlich, sich selbst zu verlieren – ein Verlust des eigenen Lebens, eine Entfremdung von allem, was vertraut ist.“ Letztendlich – und das gilt auch für Perkins’ andere Filme – wird das Genre dazu genutzt, zu zeigen, wie das Leben ist, wie es sich anfühlt, wenn es traurig und von Angst erfüllt ist. Die vielleicht wichtigsten Worte von Perkins, um seine Filme zu verstehen: „Sobald man Trauer und Tod erlebt hat, verändert sich das Horrorgenre.“
Horrorfilme als Gedichte
Dieser Ansatz prägt all seine Werke: Perkins’ Horrorfilme sind wie rhythmische Gedichte, in denen Wiederholungen, Refrains und subtile Variationen den narrativen Fluss bestimmen. Und dadurch werden sie zu Meditationen über negative Gefühle wie Trauer, Verlust, Einsamkeit. „Ein Film kann ein Gedicht sein“, erklärt er. „Ich nutze oft Wiederholungen und kehre zu visuellen, klanglichen oder emotionalen Elementen zurück. Es fühlt sich für mich mehr wie ein Lied an als wie eine Geschichte.“ Die Tochter des Teufels vermittelt so visuell das Gefühl eines langen, schleichenden Albtraums in Gedichtform, während I Am the Pretty Thing That Lives in the House, bei dem es um eine Pflegerin geht, die entdeckt, dass das Haus ihrer Patientin von einem Geist bewohnt wird, poetische Elemente durch sorgfältig geschriebene Monologe und eine fast lyrische visuelle Bildsprache integriert. In Gretel & Hänsel entsteht die Poesie einerseits durch geometrische Formen der Kulissen und ein äußerst durchdachtes Framing, das zu einer träumerischen, hypnotischen Stimmung führt, andererseits aber auch ganz einfach aus der Tatsache, dass es ein Märchen ist.
Horrorfilme als Märchen
Im Herzen von Longlegs (2024) – eigentlich eine „banale“ Geschichte um eine FBI-Agentin, die in den verstörenden Fall eines Serienmörders eintaucht, dessen Verbrechen von übernatürlichen Kräften motiviert zu sein scheinen – steht ebenfalls ein archetypisches Märchen: Eine Mutter, die alles opfert, um ihre Tochter zu beschützen, schließt einen Pakt mit dem Teufel. Doch dieser Handel, wie so oft in Märchen, birgt einen fatalen Preis und führt die Mutter schließlich ins Verderben. Diese Erzählung spiegelt die klassische Struktur von Märchen wider, in denen Entscheidungen, Opfer und düstere Konsequenzen zentrale Themen sind. Die surrealen Bilder (Stichwort: der schwarze Rauch, der aus den Köpfen der handgefertigten Puppen quillt) und die tiefgreifenden moralischen Konflikte erschaffen eine Atmosphäre, die zwischen Märchen und Albtraum oszilliert. Wie in den Geschichten der Gebrüder Grimm zeigt Longlegs, dass das Märchenhafte auch grausam und unbarmherzig sein kann. Die Moral der Geschichte? Hüte dich vor Mamas Lügen!

Die Puppe mit dem zerschossenen Kopf aus Longlegs (© Neon)
In Perkins’ Filmen entfaltet sich der Schrecken langsam, fast zögerlich, und schafft eine unbehagliche, oft traumähnliche Atmosphäre. Der Horror ist dabei niemals offensichtlich oder plakativ, sondern wirkt subtil, fast unterbewusst (ja, auch in Longlegs). Seine Arbeiten sprechen nicht die reflexhafte Angst der Zuschauer an, sondern eine tiefere, existenzielle Unruhe – und gerade dadurch hinterlassen sie einen nachhaltigen Eindruck. Bemerkenswert auch: In jedem Film wird das Übernatürliche eingesetzt, oft als Metapher für die inneren Konflikte und Ängste der Figuren. Dämonen in Die Tochter des Teufels, Geister in I Am the Pretty Thing That Lives in the House, Hexerei in Gretel & Hänsel, Satan in Longlegs. Perkins hat sogar einen Querverweis zwischen dem ersten und dem letzten Film eingebaut. Beide Werke teilen sich eine Szene, in der eine Figur „Hail Satan!“ ausruft. So gesehen schließt Perkins mit Longlegs ein filmisches Horror-Quartett, das er mit Die Tochter des Teufels begonnen hat.
Autobiografische Inspirationen
In seinen Filmen setzt sich Perkins mit seiner eigenen Vergangenheit und seinen familiären Erfahrungen auseinander. Seine Geschichten basieren meist auf autobiografischen Erlebnissen, die er eben durch die Linse des Genres interpretiert und in metaphorischen Bildern verarbeitet. Ein besonders intimes Beispiel ist I Am the Pretty Thing That Lives in the House (2016). Der Film ist seinem Vater gewidmet, was bereits die Widmung „for AP who gave me an old house“ deutlich macht. Mit „AP“ ist Anthony Perkins gemeint, dessen Schatten auf der gesamten Karriere seines Sohnes liegt, wie wir zu Beginn des Porträts gesehen haben.

Im Inneren des Hauses aus I Am the Pretty Thing That Lives in the House (© Netflix)
Osgood Perkins beschreibt in einem Interview den Film als eine Möglichkeit, die schwierige Beziehung zu seinem Vater nach dessen Tod weiter zu erkunden: „Dieser Film war absichtlich auf meine Beziehung zu ihm ausgerichtet. Ich habe versucht, meine Unfähigkeit zu verarbeiten, meinen Vater wirklich zu kennen. Genau darum geht es letztendlich in diesem Film.“ Der Film enthält außerdem einen Ausschnitt aus dem Film Lockende Versuchung (1956), für den sein Vater für einen Oscar als bester Nebendarsteller nominiert wurde, und die Rolle der Polly wurde von Paula Prentiss (*1938) übernommen, einer Freundin und Weggefährtin seines Vaters, die dafür extra ihren Ruhestand unterbrach.
Auch Die Tochter des Teufels ist von persönlichem Schmerz geprägt. Der Film, der die Trauer und Verzweiflung eines Mädchens zeigt, das beide Elternteile verloren hat, basiert auf tragischen Ereignissen in Perkins’ Leben. Sein Vater starb 1992 an AIDS, nachdem er jahrzehntelang mit seiner Sexualität gerungen hatte und diese vor der Öffentlichkeit weitgehend verborgen hielt. Seine Mutter, Berry Berenson, kam am 11. September 2001 bei den Anschlägen auf das World Trade Center ums Leben. Mit 27 Jahren war Perkins damit also Vollweise. Diese Verluste, die ihn in verschiedenen Lebensphasen trafen, prägen die melancholische Grundstimmung und die existenzielle Trauer, die im Film durch das übernatürliche Element der dämonischen Besessenheit dargestellt werden.
Weiblich getriebener Horror
Perkins hebt sich von vielen seiner Kollegen durch seinen einzigartigen Fokus auf weibliche Perspektiven im Horrorgenre ab – und das weit über das klassische ‚Final Girl‘ hinaus. Er rückt weibliche Protagonisten ins Zentrum seiner Geschichten, nimmt ihre Perspektiven ein und taucht tief in ihre Psychologie ein. Das macht den Unterschied. Während Frauen in Horrorfilmen zwar oft Hauptrollen einnehmen, bleibt ihr Charakter meist oberflächlich und die Figur dient häufig „nur“ dazu, die er- und gelebte Angst zu verkörpern. Sie sind oft zweidimensional, doch bei Perkins gewinnen sie an Tiefe und werden zu vielschichtigen, komplexen Charakteren. Regisseure wie Ari Aster (Midsommar) und Robert Eggers (The Witch) haben ähnliche Ansätze verfolgt, aber Perkins geht noch einen Schritt weiter. Diese Entscheidung ist kein Zufall, sondern ein bewusstes stilistisches und erzählerisches Element, das sich wie ein roter Faden durch sein gesamtes Werk zieht.

Sophia Lillis als Gretel in Gretel & Hänsel (© Orion Pictures Corporation)
Seine Filme erzählen von Frauen, die sich in Extremsituationen behaupten müssen. Sie stehen im Mittelpunkt der Geschichten, oft als verletzliche, aber vielschichtige Figuren, die mit dunklen Mächten konfrontiert werden – seien es Emma Roberts und Kiernan Shipka in Die Tochter des Teufels (2015), Ruth Wilson in I Am the Pretty Thing That Lives in the House (2016), Sophia Lillis in Gretel & Hansel (2020) oder Maika Monroe in Longlegs (2024). Besonders bei Gretel & Hansel zeigt sich dieser Ansatz schon im Titel: Das traditionelle Märchen wird bewusst umgedreht (eigentlich Hänsel & Gretel), um die weibliche Perspektive in den Vordergrund zu rücken. Gretel ist nicht nur die zentrale Figur, sondern auch die treibende Kraft der Handlung, was die Rollenverteilung des klassischen Märchens radikal verändert. In Longlegs steht Maika Monroes Figur vor der Herausforderung, einen satanischen Fluch zu brechen. Die Frage, ob sie als Frau dieser Aufgabe gewachsen ist, scheint fast rhetorisch, wenn man Perkins’ bisherige Filme betrachtet. Seine weiblichen Figuren sind komplex, vielschichtig und oft stärker, als ihre Umgebung sie wahrhaben will.
Perkins erklärt in einem Gespräch seinen Hang zu weiblichen Hauptfiguren mit der emotionalen Subtilität, die das Horrorgenre seiner Meinung nach erfordert: „Das Horrorgenre hängt stark von der Komplexität und Feinheit der Emotionen ab. Für mich sind das alles sehr feminine Eigenschaften. Die rohe Aggressivität, die oft mit Männlichkeit assoziiert wird, fühlt sich zu destruktiv an – sie zerbricht die fragile Schale. Was wir in diesen Filmen versuchen, ist, eine Atmosphäre aus Angst, Spannung, Neugier und Sehnsucht zu schaffen … und das fühlt sich für mich weiblich an. Aus irgendeinem Grund manifestiert sich das bei mir durch weibliche Protagonisten.“
Neue Pfade: Longlegs und darüber hinaus
Mit Longlegs hat Osgood Perkins einen mutigen Schritt in eine neue Richtung gewagt, ohne dabei die Essenz seiner bisherigen Werke preiszugeben. Während der Film eindeutig die poetische und introspektive Handschrift des Regisseurs trägt, zeichnet er sich zugleich durch Elemente aus, die ihn von seinen Vorgängern abheben. Perkins selbst erklärte in einem Interview mit DEADLINE – Das Filmmagazin (Deadline, 106, S. 33): „Meine Intention mit Longlegs war vor allem, den Zuschauern etwas Frisches, Neues und Unerwartetes zu bieten.“
Einer der auffälligsten Unterschiede ist der komödiantische Unterton, der in seinen vorherigen Filmen kaum eine Rolle spielte. Trotz seiner düsteren Prämisse schwingt in Longlegs nämlich ein sardonischer Humor mit. Der Film nimmt den satanischen Fluch, der über der Handlung schwebt, nicht immer ernst. Die Figuren erscheinen oft wie Marionetten in einem höhnischen, teuflischen Spiel, bei dem niemand die Kontrolle hat. Popkulturelle Referenzen, wie der Einsatz von Songs von T.Rex, unterstreichen diese ironische Ebene und erzeugen eine Stimmung, die den Zuschauer am Ende letztlich seltsam befriedigt (ja fast dankbar) zurücklässt – trotz all dem Horror. Die visuelle und emotionale Tiefe, die seine früheren Werke auszeichnet, ist aber auch in Longlegs allgegenwärtig. Der Film ist nicht nur eine Erweiterung seines bisherigen Schaffens, sondern auch ein deutlicher Hinweis, dass Perkins bereit ist, neue erzählerische Wege zu beschreiten.
Sein neuer Film The Monkey (2025), mit dem Perkins zu einer klassischen Horrorgeschichte zurückkehrt, bestätigt dies. Der Film basiert auf einer Kurzgeschichte von Stephen King. Und auch hier stellt Perkins klar, dass er wieder auf Komik setzen wird. Der Film sei eine Art Komödie mit viel extrem überzogener Comic-Gewalt und zitiere Filme wie Gremlins – Kleine Monster (1984) oder Der Tod steht ihr gut (1992). Man darf gespannt sein.