Eddington: Ari Asters Mikrokosmos der gespaltenen USA

Mit Eddington kehrt Ausnahmeregisseur Ari Aster in die karge Weite New Mexicos zurück, dorthin, wo seine Leidenschaft für das Kino einst entflammte. Statt des Art-Horrors, mit dem er in Hereditary (2018) und Midsommar (2019) berühmt wurde, richtet er nun die Kamera auf eine greifbare Realität – ein Amerika im Ausnahmezustand, das sich als ebenso beunruhigend und albtraumhaft erweist wie jede seiner düsteren Visionen. Eine Annäherung.

Joe Cross und Ted Garcia, zwei die sich in Asters Eddington gerne streiten

Joe Cross und Ted Garcia sind selten einer Meinung (Bild-Copyright LEONINE)

Ein Kleinstadt-Western als Spiegel der Nation

Ari Asters Eddington ist benannt nach einer fiktiven Kleinstadt in New Mexico und spielt im Mai 2020, mitten in der aufgeheizten Stimmung der frühen Pandemiezeit. Im Zentrum steht Sheriff Joe Cross (Joaquin Phoenix), der in Eddington die Maskenpflicht und Abstandsregeln nur widerwillig durchsetzt. Joe ist skeptisch, ob das Virus überhaupt ein echtes Problem für sein abgelegenes Städtchen darstellt, und wehrt sich gegen Maßnahmen, die seiner Ansicht nach nur Zwietracht säen. Aus Frust über den amtierenden Bürgermeister Ted Garcia (Pedro Pascal), der strikt pro-Maskenmandat ist, beschließt Joe kurzerhand selbst für das Bürgermeisteramt zu kandidieren. Diese lokale Rivalität (Sheriff gegen Bürgermeister) steht sinnbildlich für die politischen Grabenkämpfe, die zur selben Zeit die gesamten USA spalteten.

Nachbarschaft gegen Nachbarschaft, Sicherheitsbefürworter gegen Freiheitsverteidiger: Eddington wird zum Schlachtfeld, das in kleinem Maßstab die auseinanderlaufenden Fronten der US-Gesellschaft abbildet. Aster inszeniert dies im Gewand eines Western: Der traditionell maskuline Sheriff und sein liberaler Widersacher duellieren sich zwar nicht mit Colts auf staubiger Straße, wohl aber mit Worten, Smartphones und Ideologien in einem digitalen Zeitalter-Western. Der Zuschauer hat es mit einem modernen Kulturkampf mit Handys statt Revolvern zu tun. Die Western-Anleihen sind dabei kein Zufall: Aster, der selbst in New Mexico aufwuchs, wollte die vertraute Mythologie des amerikanischen Westens nutzen, um die aktuelle nationale Schreckensvision einzufangen. So entsteht eine Satire, die zugleich komisch und beängstigend ist, weil all das blutiger Ernst ist, der alltägliche Wahnsinn eines Landes am Abgrund.

Pandemie, Maskenkrieg und Verschwörungsdenken

Die COVID-19-Pandemie bildet in Eddington den Auslöser für viele Konflikte, obwohl das Virus selbst in der abgelegenen Kleinstadt zunächst kaum präsent ist. Ein Vorfall im Supermarkt (ein älterer Herr weigert sich, mit Maske einzukaufen, und Joe verteidigt ihn) bringt die Stimmung zum Kippen . Von diesem Punkt an eskaliert der Maskenkrieg: Ted Garcia, stets pflichtbewusst mit Maske unterwegs, vertritt die offizielle Linie, während Joe Cross die Vorschriften trotzig unterläuft und daraus politisches Kapital schlägt . Er stilisiert seine Kampagne zum Kampf gegen einen übergriffigen Staat – mit Slogans wie „Your Being Manipulated“ (absichtlich falsch geschrieben) prangt auf seinem Truck und Plakaten.

Zugleich schürt Joe Stimmung gegen ein geplantes Großprojekt: Eine Tech-Firma namens SolidGoldMagikarp* will am Stadtrand ein riesiges Rechenzentrum bauen. Viele Bewohner fürchten die ökologischen Folgen dieser Anlage (Wasserverbrauch, Ressourcen), doch der amtierende Bürgermeister erhält Rückendeckung von großen Technologiekonzernen. Ironischerweise verbündet sich sogar eine lokale Umweltschützerin mit dem eher konservativen Joe gegen das Data Center. Ungewöhnliche Allianzen entstehen, wo persönliche Motive die ideologische Linie überlagern. Diese Episode verdeutlicht Asters Ansatz, all seine Figuren ambivalent zu zeichnen: Fast jeder in Eddington verfolgt irgendwo eigennützige oder widersprüchliche Ziele, und niemand behält vollständig saubere Hände. Während also die Bürger untereinander über Masken und Macht streiten, schreitet im Hintergrund unaufhaltsam die technische Durchdringung fort – symbolisiert durch das Rechenzentrum, das am Ende des Films tatsächlich fertiggestellt wird. In der Schlusssequenz ragt der gewaltige Server-Komplex bedrohlich über den Trümmern der Kleinstadt auf und hält dem Zuschauer einen Spiegel vor: Vielleicht hätten alle besser darauf geachtet, was im Hintergrund vor sich geht, anstatt sich in Kulturkämpfen aufzureiben. Es ist eine bittere Pointe, die Eddington beinahe dokumentarisch wirken lässt. Tatsächlich wurde der Film auch schon als definitives filmisches Dokument der COVID-Ära gewürdigt, weil er zeigt, wie die Menschen sich in ihren eigenen Info-Blasen isolierten und kein gemeinsames Realitätsverständnis mehr hatten.

Zentral ist auch das Thema Verschwörungstheorien, das Aster mit bissigem Humor und Unbehagen beleuchtet. Joe Cross’ Schwiegermutter Dawn (Deirdre O’Connell) kampiert seit Wochen auf Joes Couch und bombardiert die Familie ununterbrochen mit ausgedruckten „Fakten“ und wirren Theorien. Sie glaubt an alles, was durchs Internet geistert. Im Film fungiert Dawn quasi als eine Prophetin des digitalen Wahnsinns: Ständig murmelt sie im Hintergrund abstruse QAnon-artige Verschwörungen, während Joe vergeblich versucht, zu seiner traumatisierten Frau Louise (Emma Stone) durchzudringen. Louise selbst, emotional labil und durch Missbrauch in ihrer Vergangenheit gezeichnet, ist empfänglich für die Einflüsterungen ihrer Mutter. Über ihr Smartphone gerät sie an den charismatischen Vernon Jefferson Peak (Austin Butler), einen tätowierten Online-Guru, der Videos über pädophile Geheimbünde und eine bevorstehende Apokalypse verbreitet . Vernon – eine offenkundige Persiflage auf rechtsextreme Infowars- und „Deep State“-Influencer – nutzt die Ängste seiner Follower schamlos aus, um fragwürdige Heilmittel und Survival-Pakete zu verkaufen.

All diese Menschen leben quasi im Internet und betrachten die Welt nur noch durch seltsame, ganz individuelle Fenster.

Ari Aster

In Eddington zeigt sich, wie digitale Desinformation Familien infiltriert und spaltet: Dawns Gerede und Vernons Videos treiben einen Keil zwischen Joe und Louise. Joe verliert zunehmend den Zugang zu seiner eigenen Frau, während er zugleich als Sheriff die öffentliche Ordnung wahren soll. Aster macht dabei unmissverständlich klar, dass all diese Figuren im Internet leben und die Welt nur noch durch seltsame, individuelle Fenster betrachten. Die Kleinstadtbewohner mögen Tür an Tür wohnen, doch wegen Facebook, YouTube, TikTok & Co. existieren sie in verschiedenen Realitäten, die kaum mehr zueinanderfinden. Diesem Umstand gibt der Film eine Form: Smartphones und Bildschirme sind allgegenwärtig, oft verschwimmen die Grenzen zwischen der realen Szene und dem, was auf den Displays flimmert. In einer Einstellung filmt jemand Joes Wahlkampf-Rede mit dem Handy. Der Zuschauer sieht das Geschehen durch den Handybildschirm, während die tatsächliche Umgebung unscharf bleibt . Aster und Kameramann Darius Khondji verweilen bewusst auf solchen Motiven, um zu zeigen, wie die digitale Vermittlung die Wirklichkeit dominiert. Das virtuelle „Fenster“ wird wichtiger als das, was drumherum geschieht.

Black Lives Matter und der „Woke-Mind-Virus“

Parallel zur Pandemie erschüttern die Nachwirkungen des Mordes an George Floyd auch die kleine Gemeinde Eddington. Als die Nachricht von Floyds Tod durchdringt, formiert sich eine Black-Lives-Matter-Demonstration auf den Straßen der Stadt. Ari Aster inszeniert diese Proteste jedoch nicht als pathetisches Gemeinschaftserlebnis, sondern legt den Finger auf die Widersprüche und Eitelkeiten, die sich dabei zeigen. Im Mittelpunkt steht die jugendliche Sarah (Amélie Hoeferle), eine weiße Teenagerin aus gutem Haus, die sich mit Feuereifer an die Spitze der BLM-Bewegung in Eddington stellt. Sarah ist eine Karikatur der überspannten „woken“ Aktivistin: Bei ihrem ersten Auftritt tanzt sie für TikTok zu einem James-Baldwin-Zitat, später trägt sie demonstrativ ein Exemplar von Giovannis Zimmer (1956) in der Hand. Tatsächlich kümmert Sarah sich weniger um echte schwarze Stimmen als um ihr eigenes Image im Protest. In einer Schlüssel-Szene faucht sie ausgerechnet ihren Ex-Freund Michael (Micheal Ward) an – einen schwarzen Deputy im Sheriffbüro und einer der wenigen „People of Color“ im Ort – er solle „gefälligst mit ihnen protestieren“. Michael, der zuvor den ganzen Tag von seinen weißen Kollegen genervt wurde, er solle doch seine Gefühle zum Floyd-Vorfall erklären, steht fassungslos zwischen den Stühlen. Solche Momente hält Eddington erbarmungslos fest, um die Absurdität mancher Konfrontationen zu entlarven.

Joe Cross und Gehilfen sehen sich einer Black-Lives-Matter-Demonstration gegenüber (Bild-Copyright LEONINE)

Der „Woke-Mind-Virus“ (ein Begriff, den Rechte nutzen, um übertriebenes Linksliberalismus-Geplapper zu verspotten) scheint bei Eddingtons weißer Jugend um sich zu greifen. Brian (Cameron Mann), ein weiterer Teenager, eignet sich hastig Grundwissen über Rassismus an, aber hauptsächlich, um bei Sarah Eindruck zu schinden. Auch Ted Garcias Sohn Eric beteiligt sich eher aus persönlichen Motiven an den Unruhen. So wird der Protest in Eddington teilweise zum Schauplatz egoistischer Zwecke: Selbstdarstellung, romantische Avancen oder Ablenkung von eigenen Verfehlungen. Aster nimmt beide Seiten aufs Korn, sowohl engstirnige Behörden als auch scheinheilige Aktivisten.

In Eddington werden so innerhalb kürzester Zeit Fronten aufgebaut, wo vorher vielleicht ein fragiler Friede herrschte. Interessanterweise verzichtet Aster darauf, diese Konflikte moralisierend aufzudröseln. Eddington wird kein Lehrstück mit klarer Botschaft, wer Recht hat. Stattdessen hält der Film der amerikanischen Gesellschaft einen schmerzhaften Zerrspiegel vor: Alle Figuren – ob rechts, links, weiß, schwarz, alt oder jung – agieren gleichermaßen gefangen in ihrer eigenen Perspektive und tragen zur Eskalation bei. Das Ergebnis ist Chaos, in dem letztlich niemand wirklich gewinnt. In Eddington mag es nominell um eine kleine Gemeinde gehen, doch unübersehbar ist dies ein Porträt der USA insgesamt, ein Land, in dem im Jahr 2020 kein gemeinsamer Nenner mehr gefunden werden konnte.

Asters Intention: Beobachten statt Predigen

Angesichts der Fülle an brisanten Themen – von Corona-Politik über Rassismus bis Social Media – könnte Eddington als überambitioniert oder überwältigend empfunden werden. Tatsächlich waren die Reaktionen gespalten: Manche loben Asters Mut, dem Zeitgeist einen so schonungslosen Spiegel vorzuhalten, andere kritisieren den Film als wirres, tonlich unausgewogenes Experiment.


Das größte Problem, das ich im Moment sehe – und es wirkt fast unüberwindbar –, ist, dass wir einander überhaupt nicht mehr erreichen und es uns auch gar nicht interessiert. Wir sind auf äußerst erfolgreiche Weise gespalten worden.

Ari Aster

Ari Aster selbst war sich der möglichen Kontroversen bewusst. Er hat Eddington ausdrücklich nicht als parteiisches Statement gedreht, sondern als Bestandsaufnahme eines zerrütteten Gemeinwesens. Es ging mir nicht darum, einen politischen Film für die eine oder gegen die andere Seite zu machen – das wäre zu engstirnig, betont er. Stattdessen wolle er das Umfeld beleuchten, in dem die Menschen einander nicht mehr zuhören können. Ihm erschien es wichtiger, den emotionalen und sozialen Ausnahmezustand jener Monate einzufangen, als eine eindeutige Lösung zu propagieren. Die größte Herausforderung unserer Zeit sei schließlich, „dass wir einander überhaupt nicht mehr erreichen und es uns auch gar nicht interessiert. Wir sind auf äußerst erfolgreiche Weise voneinander gespalten worden“ , so Aster weiter (selbe Quelle wie Zitat davor). Eddington spiegelt genau dieses Gefühl der Isolation und Entfremdung wider. Alle Charaktere sind auf die eine oder andere Weise einsam in ihrer Blase – ob physisch isoliert durch Lockdown oder psychisch isoliert durch Online-Algorithmen und Ideologien. Aster beschreibt den Kern des Films als Erforschung eben dieser Erfahrung von Entfremdung und der Absurdität, die daraus entsteht. Indem er seine eigene Haltung zunächst zurückhält und alle Seiten überspitzt darstellt, lädt er das Publikum ein, mit Abstand auf den kollektiven Wahnsinn zurückzublicken.

Fazit: Eine schonungslose Momentaufnahme Amerikas

Unterm Strich ist Eddington ein Film, der ebenso gut eine Dokumentation sein könnte, wenn auch eine höchst eigenwillig inszenierte. Ari Aster nutzt die Mittel von Satire, Thriller und Drama, um ein Mosaik der Vereinigten Staaten in den Jahren 2020 bis 2025 zu komponieren. In der kleinen Welt von Eddington spiegelt sich die große Welt Amerikas: die pandemiebedingten Ängste, die politischen Gräben, die Proteste gegen Ungerechtigkeit, aber auch deren Instrumentalisierung, und die allgegenwärtigen sozialen Medien, die jede Realität verzerren. Diese Kleinstadt-Chronik der Krise ist sicherlich sperrig, nicht immer elegant in ihrem Ton, doch gerade diese Unordnung macht ihren Wahrheitsgehalt aus. Eddington ist, wie Kyle Smith im Wall Street Journal schrieb, eine ungezähmte Bestie von einem Film – satirisch giftig, manchmal chaotisch, aber mit der Courage, hässliche Wahrheiten ans Licht zu zerren. Wer den Mut hat, sich darauf einzulassen, wird in Asters zweieinhalbstündigem Epos reichlich Denkstoff finden. Am Ende verlässt man das Kino mit dem beklemmenden Gefühl, soeben einen verstörend vertrauten Albtraum gesehen zu haben, einen Albtraum, der in der Realität der letzten fünf Jahre wurzelt.

In diesem Sinne ist Eddington ein filmischer Weckruf, verpackt als dunkle Satire, und zugleich ein Mahnmal einer Nation im Ausnahmezustand. Wenn das Kino je an ein dokumentarisches Protokoll gesellschaftlicher Realität heranreichte, dann in diesem ambitionierten Werk, das Amerikas wahre Horrorstory seziert, beängstigend und brillant zugleich.

*SolidGoldMagikarp war ursprünglich der Name eines sogenannten Glitch-Tokens – einer anomalen Zeichenfolge im Vokabular von GPT-ähnlichen Sprachmodellen, die bei Eingabe unvorhersehbares Verhalten auslösen konnte (inzwischen behoben). Im Film Eddington trägt das geplante Datacenter denselben Namen und fungiert als Sinnbild für die Vielzahl konkurrierender Realitätsentwürfe, die im Mikrokosmos der Kleinstadt aufeinandertreffen. Jede dieser subjektiven Wahrheiten beansprucht Gültigkeit und genau diese Kollision macht das Handeln der Figuren so unberechenbar.

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