Am 1. Januar 2024 war es (endlich) so weit: Steamboat Willie, jene pfeifende Maus aus dem Jahr 1928, die das Disney-Imperium begründete, fiel in die Public Domain. Was folgte, war vorhersehbar und zugleich doch bizarr. Binnen Monaten kündigten Independent-Studios Horrorfilme an, in denen Mickey zur mörderischen Kreatur mutiert. The Mouse Trap (2024) und Screamboat (2025), um nur einige zu nennen, verwandelten die Ikone unserer Kindheit in einen Splatter-Protagonisten. Doch dieser Moment war kein Anfang, sondern bereits die Fortsetzung einer Entwicklung, die 2022 begonnen hatte, als Winnie the Pooh seinen Urheberrechtsschutz verlor und prompt in Winnie-the-Pooh: Blood and Honey (2023) zum Mörder wurde. Heute gibt es eine regelrechte Inflation dieser Filme …
Was sich hier abzeichnet, ist mehr als eine skurrile Randnotiz der Filmgeschichte. Es ist die Entstehung eines Mikrogenres, des Public-Domain-Horrors, das an der Schnittstelle von Ökonomie, Nostalgie und kulturellem Unbehagen operiert und im Gegensatz zum feinen Art-Horror steht. Eine Betrachtung.

Szene aus Winnie-the-Pooh: Blood and Honey, Copyright Jagged Edge Productions
Die juristische Zäsur als kulturelles Ereignis
Public-Domain-Tage sind zu Feiertagen einer bestimmten Subkultur geworden. Seit dem Copyright Term Extension Act von 1998 – im Volksmund auch „Mickey Mouse Protection Act“ genannt, weil Disney massiv dafür lobbyierte – waren solche Momente rar. Umso größer die Aufmerksamkeit, als 2022 endlich wieder Figuren gemeinfrei wurden. Winnie the Pooh machte den Anfang, 2024 folgte Steamboat Willie, 2025 kamen frühe Popeye- und Tintin-Inkarnationen hinzu.
Die rechtliche Lage ist dabei komplexer, als es zunächst scheint. Frei ist nicht frei von allem: Nur die früheste Version einer Figur fällt in die Public Domain, spätere Designs bleiben geschützt. Steamboat Willie darf genutzt werden, aber ohne die weißen Handschuhe, ohne Tonfall und ohne alles, was nach dem Disney-Mickey der späteren Jahrzehnte aussieht. Das Markenrecht verhindert zudem, dass neue Werke als „offiziell“ missverstanden werden können. Diese Grauzonen sind selbst Teil des Diskurses geworden; Juristen erklären geduldig die Unterschiede, während Filmemacher die Grenzen bereits (genussvoll) austesten.
Ökonomie des Tabubruchs
Winnie-the-Pooh: Blood and Honey war ein Lehrstück in Sachen Low-Budget-Rentabilität. Mit gerade einmal 100.000 US-Dollar Produktionskosten brachte der Film weltweit über 7,7 Millionen US-Dollar in den Kinokassen ein – trotz vernichtender Kritiken (3% auf Rotten Tomatoes) und eines Platzes unter den 100 schlechtesten Filmen aller Zeiten.
Lustigerweise erzählt der Regisseur des Films, Rhys Frake-Waterfield, dass die Kosten sogar noch niedriger gewesen seien: „Das tatsächliche Budget war sogar geringer als angegeben. Die Hauptdreharbeiten kosteten nur 20.000 Dollar, und dann kamen Nachdrehs und anderes dazu, aber der Film spielte ungefähr 6 Millionen Dollar ein.“
Das Studio ITN und Frake-Waterfield erkannten sofort: Hier liegt eine Formel. Sie bauten das „Twisted Childhood Universe“ auf, das mittlerweile auch Peter Pan’s Neverland Nightmare (2025) und Bambi: The Reckoning (2025) umfasst. Ein ganzes Franchise-Kosmos also, der auf dem Schock der Subversion basiert.
Die Rechnung ist simpel: Sofort erkennbare Charaktere plus blutiger Hook plus viral tauglicher Trailer gleich Event-Film. Keine Lizenzgebühren, keine Corporate-Kontrolle, keine Rücksicht auf „Markenwerte“. Die Marketingformel ist billig, der Payoff im besten Fall überraschend solide. Für Streaming-Plattformen wie Netflix und Amazon Prime, die konstant nach kostengünstigem Content mit Gesprächswert suchen, sind diese Filme ideal: niedriges Risiko, hohe Aufmerksamkeit.
Doch diese ökonomische Logik offenbart auch die Kehrseite des Phänomens. Die meisten dieser Filme sind handwerklich miserabel – schlecht beleuchtet, hastig geschnitten, mit Dialogen, die selbst großzügige Zuschauer zum Fremdschämen bringen. Der Schockwert kompensiert die fehlende filmische Qualität, Gore übertüncht die dramaturgischen Defizite. Was bleibt, ist oft nicht mehr als kalkulierter Tabubruch ohne künstlerischen Mehrwert.

Szene aus Screamboat, Copyright Tiberius Film
Andererseits können die Filme aber auch als abstruse Splatter-Festivale gefeiert werden, die doch ihren Charme haben, wie etwa Screamboat. Wer sich nämlich mit gesenkten Erwartungen auf diese morbide Disney-Parodie einlässt, der wird bestens unterhalten …
Hier eine übersichtliche Tabelle (kein Anspruch auf Vollständigkeit) aller Public-Domain-Horrorfilme der letzten Jahre mit Beschreibung, Budget und Einspielergebnis:
| Film | Jahr | Budget | Kino-Ertrag |
|---|---|---|---|
| Winnie-the-Pooh: Blood and Honey | 2023 | 100.000 | 7,7 Mio. |
| The Mouse Trap | 2024 | $800,000 | $663,240 |
| Winnie-the-Pooh: Blood and Honey 2 | 2024 | 500.000 | 7,6 Mio. |
| Mouseboat Massacre | 2025 | ||
| Mouse of Horrors | 2025 | ||
| Screamboat | 2025 | $393,011 | |
| Peter Pan’s Neverland Nightmare | 2025 | £250,000–£310,000 | 1,6 Mio. |
| Bambi: The Reckoning | 2025 | £250,000 | $534,030 |
| Popeye’s Revenge | 2025 | ||
| Popeye the Slayer Man | 2025 | $35,342 | |
| Shiver Me Timbers | 2025 | ||
| Poohniverse: Monsters Assemble | 2025 | ||
| Pinocchio: Unstrung | 2026 (geplant) |
Nostalgie als Waffe
Warum funktioniert diese Formel überhaupt? Weil sie eine der mächtigsten Emotionen unserer Zeit instrumentalisiert: Nostalgie. Die Juxtaposition von Kindheitserinnerungen mit extremer Gewalt erzeugt eine destabilisierende psychologische Erfahrung. Horror lebt vom Unerwarteten, und nichts ist unerwarteter als die Transformation einer geliebten Figur in einen Mörder.
Doch es geht um mehr als bloßen Schock. Diese Filme reflektieren eine tiefere kulturelle Obsession: den Drang, Kindheitserinnerungen nicht nur zu konservieren, sondern zu dekonstruieren, zu verderben, mit ihnen zu brechen. Nostalgie ist längst nicht mehr die warme Sehnsucht nach dem Vergangenen … sie ist zu einem Schlachtfeld geworden, auf dem wir unsere Beziehung zur eigenen Geschichte verhandeln. Die Frage, die sich stellt: Warum wollen wir sehen, wie Winnie the Pooh tötet?
Vielleicht, weil wir erkannt haben, dass diese Figuren nie wirklich uns gehörten. Sie waren immer Eigentum von Konzernen, die sie als Marken verwalteten, kontrollierten, für ihre Zwecke einsetzten. Die Public-Domain-Horror-Welle ist auch ein impliziter Protest gegen Corporate-IP-Monopole – gegen Disney, das jahrzehntelang Urheberrechtsschutzzeiten verlängern ließ, um seine Charaktere zu horten. Dass Steamboat Willie schließlich doch 2024 gemeinfrei wurde, feierten viele als symbolischen Sieg. Die Memes, die daraufhin durchs Netz gingen (Mickey in absurden, satirischen Situationen) waren nicht nur Humor, sondern auch Rebellion.
Zwischen Exploitation und Reflexion
Die künstlerische Spannbreite des Genres ist beträchtlich. Auf der einen Seite steht die reine Exploitation: Filme wie Winnie-the-Pooh: Blood and Honey, die Gewalt – insbesondere gegen Frauen – exzessiv inszenieren, ohne jede Reflexion oder tiefere Aussage. „Salacious, not subversive“, wie Riana Slyter bei Horror Homeroom treffend formulierte: reißerisch statt subversiv. Diese Filme nutzen den Schockwert als Ersatz für echte künstlerische Vision.
Wir bekommen viel Kritik, dass das unoriginell sei, nur weil es auf einer bestehenden Marke basiert. Aber das gibt einem einen Aufhänger, und dann kann man darauf aufbauen und etwas machen, das es so noch nie gegeben hat.
Rhys Frake-Waterfield, Regisseur der Winnie-the-Pooh-Filme
Auf der anderen Seite gibt es Ansätze, die das Potenzial des Genres erahnen lassen. Screamboat (2025) etwa bettet eine metatextuelle Kritik am Urheberrecht selbst ein. In einer visuell bemerkenswerten animierten Rückblende wird Willies Trennung von Walt Disney erzählt, eine Andeutung darauf, dass lange Urheberrechtsschutzzeiten kulturelle Ikonen in „gefangene Relikte“ verwandeln. Hier wird der Horror zum Vehikel für Gesellschaftskritik, die Figur zur Projektionsfläche für Fragen nach kulturellem Eigentum und kreativer Freiheit.
Auch Bambi: The Reckoning gilt als eher starker Vertreter des Public-Domain-Horrors, weil er das Subgenre über bloße Nostalgie hinaus politisiert: Aus dem traumatisierten Rehkitz wird eine mythisch aufgeladene Inkarnation der Natur, die nach Umweltzerstörung und Muttermord zurückschlägt. Also Öko-Horror als Rachemärchen. Anders als viele „Twisted-Childhood“-Titel, die primär auf Splatter-Effekte setzen, verknüpft der Film Vergeltung konsequent mit ökologischer Schuld und macht den Wald selbst zum Akteur. Diese klare, visuell pointierte Metapher verleiht dem Film Relevanz – und erklärt, warum er von manchen Kritikern als „bester“ und zeitgemäßester Beitrag des Mikrogenres gehandelt wird.

Szene aus Bambi: The Reckoning, Copyright Seismic Releasing / ITN
Das ist der fundamentale Unterschied: Zwischen Filmen, die Kindheitsikonen nur als Gags behandeln, und solchen, die sie als Möglichkeit begreifen, über Medien, Gesellschaft und Mythologien nachzudenken.
Memetik statt Mythopoetik
Das Public-Domain-Horror-Mikrogenre denkt Figuren weniger als Charaktere denn als Memes. Der liberale Umgang mit Kanon und Tonalität (Parodie, Splatter, Camp) ist eher Feature als Bug. Diese Filme umarmen den Vorwurf der „IP-Aasfresserei“ mit einem Schulterzucken und spielen ihn sogar aus. Sie sind Produkte einer Kultur, in der Ironie zur Grundhaltung geworden ist, in der nichts mehr heilig ist. Oder alles nur noch ironisch heilig.
Die Teflon-Ironie dieser Filme schützt sie vor Kritik: Wer sie als geschmacklos bezeichnet, hat „den Witz nicht verstanden“. Wer nach künstlerischem Anspruch fragt, wird belächelt. Das ist einerseits befreiend – eine Absage an den Ernst des Kunstbetriebs. Andererseits ist es auch eine Kapitulation: Wenn alles nur noch Meme ist, kann nichts mehr wirklich etwas bedeuten.
Was kommt als Nächstes?
Mit jedem Public-Domain-Jahrgang verschiebt sich das Set der Spielfiguren. 2025 sind Popeye und andere in den USA gemeinfrei geworden, 2026 und 2027 dürften weitere Cartoon-Ikonen folgen. Langfristig stehen noch größere Namen an: Superman, Batman und andere werden ab 2033/2034 in die Public Domain übergehen. Das könnte zu einer exponentiellen Expansion des Genres führen (oder auch zu seinem Zusammenbruch durch Marktsättigung).
Realistisch ist eine Diversifizierung der Modi: Neben nischigem Splatter vermehrt Horror-Komödien, Meta-Satiren auf IP-Kultur und vielleicht – hoffentlich – stilistisch ambitionierte Lesarten, die die Ikonen nicht nur als Gags, sondern als Projektionsflächen für tiefere Narrative begreifen. Dass die Maus töten kann, ist etabliert. Spannender wäre, wenn sie uns wieder etwas über uns selbst erzählte.